100 Jahre biologisch-dynamische Landwirtschaft, zwei Spitzenköchinnen, ein bestechendes Konzept: Selassie Atadika und Elif Oskan begeisterten die Gäste einer experimentellen Tafelrunde mit einem biodynamischen Menü aus dem Garten des Goetheanums.

Mein Gegenüber am Tisch kämpft. Wie isst man eine Suppe, wenn der klobige Löffel ein grosses Loch hat? Angesichts der aussichtslosen Lage bleibt nur ein herzhaftes Lachen. Alle rundherum lachen mit. Auf das gemeinsame Lachen folgen angeregte Gespräche mit den wildfremden Tischnachbarn. Ein künstlerisches Augenzwinkern, ein subversives Loch in einem Löffel, bricht das Eis.

Die Erleichterung, dass der eigene Löffel kein Loch hat, währt nicht lange. Das Gegenüber hat zwar ein Loch im Löffel, aber immerhin einen eigenen Suppenteller. Ging mein Teller vergessen? Die Bedienung klärt auf: «Wer keinen eigenen Teller hat, teilt sich einfach eine der grösseren Suppenschalen mit anderen Gästen.»

 

Ein Gesamtkunstwerk

Das Besteck sowie die Trink- und Essgefässe wurden von Künstler*innen entworfen. Sie sprengen alle Normen und unterwandern spielerisch die gängige Routine. «Pflanzlich, sinnerweiternd – ein Gesamtkunstwerk», so beschreibt Steinbeisser das Konzept des Abends. Oder konkreter: experimentelle Gastronomie. Steinbeisser, das sind Martin Kullik und Jouw Wijnsma. Ihre internationalen Events sind stets biodynamisch und vegan, die Getränke alkoholfrei.

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der biologisch-dynamischen Landwirtschaft brachte Steinbeisser zwei aussergewöhnliche Köchinnen, die sich zuvor nicht kannten, in der Küche des Goetheanums zusammen: Selassie Atadika, prominente Vertreterin der neuen afrikanischen Küche aus Ghana und Elif Oskan, die in Zürich das türkische Restaurant Gül führt. Die beiden Frauen entwickelten gemeinsam das Menü.

 

 

Zu Fuss zum Festessen

Gastgeberin war die landwirtschaftliche Sektion des Goetheanums. Ein grosser Teil der Zutaten stammte denn auch aus dem biodynamischen Gemüse- und Kräutergarten. Diesen besichtigten die Gäste auf einem kurzen Spaziergang, der unter einem grossen gelben Sonnenschirm mit dem ersten Gang endete: ein essbarer Blumen- und Kräuterstrauss.

Im weiteren Verlauf des Spaziergangs findet die Gästeschar den zweiten Gang inmitten einer Blumenrabatte: Schlangenbrote, um Haselruten gewickelt, frisch vom Feuer. Der Dip für die Schlangenbrote wartet im Innern des Goetheanums.

 

70 Gäste sitzen an einer endlos langen Tafel, die das gesamte Foyer des Goetheanums durchmisst. Der Raum ist in stimmiges Licht getaucht, über dem Tisch schwebt eine spektakuläre Skulptur aus Drahtgeflecht. Die Tischdecke besteht aus Jutestoff, die von einem Pilz zu einer schimmlig-weissen, ledrigen Decke durchwuchert wurde.

 

 

 

Exotisch und aufregend

Die beiden Köchinnen stellen die einzelnen Gänge persönlich am Tisch vor. Sie schmecken so exotisch und aufregend, wie sie in den Worten der Spitzenköchinnen klingen: Sesame Soup; Egusi, Sesame and Cassava Cracker, Microgreens; Roasted Hokkaido Pumpkin with Iso Koshu Mayo and Pickled Onions; Egusi Galette, Gari, Seasonal Salad, Berry Vinaigrette; Vegetable Parcel with Summer Vegetables, Radish Ribbon and Savory Oil. Die Menü-Liste ist lang und pendelt aufregend zwischen Goetheanum, Afrika und der Türkei.

 

Der Abend ist ein Augenöffner: Unser Ess- und Tischverhalten ist streng normiert und ritualisiert. Kleinste Abweichungen – der Löffel hat ein Loch, die Suppe muss mit dem unbekannten Tischnachbar geteilt werden – lassen uns über den Tellerrand in eine aufregende, neue Welt stolpern. Besticht diese kulinarische Welt mit biodynamischer Qualität und der Handschrift von zwei Ausnahmetalenten am Herd, wandern die Besucher zu später Stunde satt und glücklich in die warme Sommernacht hinaus.

 

Text: Patrick Schellenberg
Bilder: Goetheanum