Glück im Stall: Im Betrieb von Simon Schmutz (links) steht das Soziale über der Produktion. Fotos: Christian Merz

Simon Schmutz arbeitet auf dem Hof Wagenburg in Seegräben mit 15 Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.

Matthias Müller, Zürcher Oberländer – www.zueriost.ch  | 28. Aug. 2021

Fragt man die Leute nach Landwirtschaft und Seegräben, so dürfte man vor allem einen Namen hören: Jucker Farm. In einer Zeit, in der auch in der Agrarwelt neue Ideen und klare Positionierungen gefragt sind, haben die Juckers in ihr Konzept vom Erlebnishof investiert und eine Marke aufgebaut.

Nur einen Steinwurf entfernt hat sich indessen in den 1970er Jahren ein anderer Seegräbner darangemacht, eine Agrarnische zu besetzen, aus der es sich heute optimistisch in die Zukunft blicken lässt: der Bauer Andreas Ott. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat er mit seiner Frau Daniela den einst überschaubaren Hof Wagenburg zu einem vielseitigen Demeter-Betrieb ausgebaut.

Wahr gewordene Utopie

Dem Prinzip der biodynamischen Landwirtschaft entsprechend wird hier auf 50 Hektaren mit Milchkühen, Kälbern, Schafen, Schweinen, Hühnern, Ziegen, Eseln, Pferden und diversen Kleintieren gearbeitet und Gemüseanbau betrieben. Das wirklich Spezielle am Betrieb sind aber seine menschlichen Bewohnerinnen und Bewohner: Als Teil des Vereins Zürcher Eingliederung arbeiten und leben 15 Menschen mit geistiger Beeinträchtigung auf dem Hof (siehe Box). In Zeiten des industriellen Produktionsdrucks wirkt die Konstellation wie eine kleine wahr gewordene Utopie.

Es ist ein grosses Erbe, das Andreas Ott hinterlassen hat, als er sich vor zwei Monaten in die Pension verabschiedete. Simon Schmutz weiss das. Der 50-Jährige hatte in den 1990er Jahren auf dem Hof seine Lehre gemacht. Er ist seit gut fünf Jahren zuständig für den Landwirtschaftsbetrieb und damit der eigentliche Bauer. Er sagt: «Alle sprechen davon, den landwirtschaftlichen Kreislauf möglichst schliessen zu wollen. Wir kommen dem nahe.»

Aufeinander angewiesen

Kreislauf – der Begriff wird noch einige Male fallen. Im Kern geht es darum, so wenig als möglich einzukaufen, alles selbst herzustellen und sich selbst zu tragen. «Boden, Pflanze, Mensch und Tier sind aufeinander angewiesen. Wir versuchen entsprechend alles zu pflegen», führt Schmutz aus. «Der Leistungsgedanke steht hier nicht über allem, das Soziale ist wichtiger. Die von uns betreuten Personen müssen sich wohlfühlen, damit alles gut funktioniert.» Und: «Es ist unser Ziel, Betrieb und Betreuung so wenig wie möglich zu trennen.»

Es sind letztlich die Menschen und ihr Geist, die diesen Betrieb ausmachen. Menschen wie Olivier, der gerade in seiner orangen Jacke den Kühen das Gras zuschaufelt und stolz für die Kamera posiert. Simon Schmutz lächelt. «Sie sind ungefiltert, zeigen ihre Emotionen und füllen den Ort mit Leben.»

Enorm viele Stärken

Natürlich sei es nicht immer nur einfach. «Ja, es braucht schon Geduld», sagt Schmutz und schaut hinauf auf die Strasse. Dort sitzt ein junger Mann mit Trisomie 21, der erst seit einer Woche hier ist, auf einem Stuhl und schaut sich die vorbeifahrenden Autos an. «Es wird noch eine Weile dauern, bis er richtig angekommen ist.»

Die betreuten Mitarbeiter hätten aber auch enorm viele Stärken, von denen er profitieren könne. «Einige können sich viel besser auf eine Arbeit konzentrieren, sind weniger abgelenkt», sagt er. Dann erzählt er von einem betreuten Mitarbeiter, der schon seit 30 Jahren auf dem Hof Wagenburg lebt und eigentlich eine «lebende Chronik» sei: «Der weiss haargenau, welcher Stier oder welcher Lehrling von wann bis wann hier war.»

Weniger, dafür mit Hörnern

Ähnliches gilt für das Wohlbefinden der Tiere, schliesslich tragen auch sie den Geist des Hofs mit. Vor allem die Kühe. Sie gelten in der Demeter-Philosophie als zentral, weil sie am selben Ort fressen und Dung produzieren. «Wir haben hier 47 Kühe», erklärt Schmutz. «Die Stallung würde eigentlich 70 erlauben, doch weil wir sie nicht enthornen, geben wir ihnen viel mehr Platz.»

Gleichzeitig wolle man die Kühe nicht auspressen, um kurzfristig eine maximale Menge Milch zu gewinnen, sondern sie möglichst lange und nachhaltig nutzen. Auf dem Hof setzt man deshalb auch auf Zweinutzungskühe und nicht auf die produktiveren, spezialisierten Rassen.

Auf dem Rundgang über den Hof eröffnet sich eine weitere Seite der Demeter-Kultur. Die Gänse watscheln munter an den grasenden Kühen vorbei, weiter hinten kreuzen die Pfauen frei laufend den Weg. «Unsere Anarchisten», sagt Schmutz und lacht. Auf der Ostflanke des Hofs vergnügen sich einige Mastschweine in einem Gehege, das mit seinen Steinbergen ein wenig an einen Abenteuerpark erinnert.

Unterdessen ist Andreas Wyss hinzugestossen. Er verantwortet derzeit die Abteilung Gemüsebau. In diesem Bereich hat die Wagenburg kein gutes Jahr hinter sich. Zu viel Regen, zu wenig Sonne, zu oft Hagel. Die Frage nach der Lage beantwortet er mit einem Schulterzucken. «Der Vorteil der Vielfalt ist, dass eine magere Ernte in einem Bereich durch etwas anderes kompensiert werden kann.» Produktion hin oder her. Die Essenz sei etwas anderes: «Das Leben während der Arbeit, das durch die betreuten Personen erfüllt wird.»

Direkter – und persönlicher

In den Kanon stimmt Lucia Wyss im Hofladen mit ein. Dieser führt fast alles, was die Kundschaft nachfragt. Vom Gemüse über das Dinkelbrot bis hin zu Konfitüren und Käse – alle Rohmaterialien kommen vom Hof. «Die Leute, die hier einkaufen, schätzen den direkten Kontakt», sagt sie. «Durch unsere betreuten Personen wird er persönlicher.» So lasse sich wiederum nicht nur das Bedürfnis oder das passende Produkt besser finden, sondern auch einiges erklären. «Die Kunden wissen dann etwa, dass das Gemüse nicht so schön ausschaut, weil es gehagelt hat.»

Wie sich der Betrieb hinter den Kulissen organisiert, erklärt Pascal Schneider. Er hat vor zwei Monaten die Betriebsleitung vom pensionierten Andreas Ott übernommen. «Unsere Bewohner arbeiten in verschiedenen Gruppen: in der Landwirtschaft, im Gemüsebau, in der Baugruppe oder im Hofladen. Es gibt Turnusse, aber grundsätzlich arbeiten sie in jenen Bereichen, auf denen sie sich spezialisierten und wo sie sich am wohlsten fühlen.»

Arbeiten, wohnen und leben

Die beschworene Stimmigkeit – sie wird hier so gelebt, dass man sie fast zu spüren glaubt. Insgesamt 19 Personen – darunter Bauern, Lehrlinge und diverse Agogen – sind hier angestellt. Tatsächlich leben die Menschen hier zu grossen Stücken auch in der Freizeit zusammen. Simon Schmutz wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Bauernhaus, direkt angegliedert sind die Wohnhäuser für die betreuten Mitarbeiter und das Betreuungspersonal. Einige Bewohner sind bereits seit Jahrzehnten hier.

Die Prinzipien, nach denen die Menschen leben, prägen deren Selbstwertgefühl – egal, ob regulärer Mitarbeiter oder betreute Person. «Jeder, der hier arbeitet, fühlt sich hier zu Hause und weiss, dass er wichtig ist. Jeder leistet seinen Teil dazu, dass der Hof wächst und schöner und besser wird», sagt Schmutz. Und: «So darf auch jeder das Gefühl haben, dass er unersetzlich ist.»

VZE: Der Kreislauf über dem Kreislauf
Der Wagenburg-Hof in Seegräben ist Teil des Vereins Zürcher Eingliederung (VZE), eines Sozialwerks, das Wohn- und Arbeitsstätten für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen anbietet. Im Verbund, zu dem neben den bekannten Vier-Linden-Betrieben auch der Triemenhof in Hinwil gehört, werden die im Wagenburg-Hof nach dem Demeter-Standard produzierten Produkte verarbeitet, gegessen oder verkauft.
Bauer Simon Schmutz ist Präsident des Vereins für biologisch-dynamische Landwirtschaft, der Vereinigung der Schweizer Demeter-Produzenten. Das Label, das im Zuge einer 1924 vom Philanthropen Rudolf Steiner gehaltenen Vortragsreihe entstanden ist, gilt als ältestes und striktestes Bio-Label. Angesichts des steigenden Nachhaltigkeitsbewusstseins in der Gesellschaft hat es in den letzten Jahren an Bekanntheit gewonnen. Unterdessen führen auch die Schweizer Grossisten Migros und Coop eine Vielzahl an Demeter-Produkten im Sortiment. (mmu)

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