In der Corona-Krise stürzen sich die Schweizerinnen und Schweizer in die Gartenarbeit. Beim Samenzuchtunternehmen Zollinger in Les Evouettes VS arbeitet man im Schichtbetrieb, um alle Bestellungen bewältigen zu können. Das Walliser Familienunternehmen züchtet Saatgut für Früchte und Gemüse. Aber warum stürzen sich die Schweizer gerade in die Gartenarbeit?

Evouettes, 28 mars 2020. Portrait of Tulipan Zollinger. Succesful Company during the Crisis – Biosamen Zollinger. Les plus anciens producteurs de semences biologiques de Suisse. © Olivier Vogelsang

Philippe Reichen, Les Evouettes | Der Bund, 31. 3. 2020

Der Ansturm ist beispiellos. Er begann vor zwei Wochen, kam völlig unerwartet und nimmt nicht ab. Auslöser war die Medienkonferenz mit Bundesrat Alain Berset in Bern. «Als Alain Berset wegen der Corona-Pandemie den Lockdown verkündete, griffen mehr und mehr Leute auf unsere Internetseite zu», erinnert sich Tulipan Zollinger. Irgendwann hielt der Server dem Ansturm nicht mehr stand. Er stürzte ab. Also riefen die Kunden an, um biologisches Saatgut für Blumen, Kräuter und Gemüse zu bestellen, das Tulipan Zollinger und seine zwei Brüder mit ihrem Unternehmen produzieren.

450 Arten umfasst ihr Katalog insgesamt: vom einfach anzubauenden Schnittsalat bis zur exquisiten Bergaubergine mit mexikanischen Wurzeln. Sämtliche Pflanzen, aus denen die Samen stammen, werden auf dem eigenen Landgut gezüchtet. Der Hof steht in der Ortschaft Les Evouettes VS in der Region Chablais, mitten in der Rhoneebene und damit auf äusserst fruchtbarem Boden. Teils spriessen die Gewächse auf Walliser, teils auf Waadtländer Boden. 30 Hektaren Landfläche stehen dem Betrieb zur Verfügung, doch nur rund die Hälfte ist jeweils bebaut, weil der Rest der Erde ruhen muss.

«Hunderte Bestellungen sind bei uns seit Beginn des Lockdown eingegangen. Wir kommen mit Abpacken und Verschicken kaum mehr nach, aber die Leute haben zum Glück Verständnis, wenn Lieferungen ein wenig später eintreffen», sagt Tulipan Zollinger.

Nach der Krise ernten

Das kleine Familienunternehmen mit etwas mehr als 20 Angestellten musste mittlerweile auf Schichtbetrieb umstellen. Die Frühschicht beginnt um vier Uhr morgens, um Mittag treffen die Leute für die Nachmittagsschicht ein. Die drei Brüder arbeiten sogar am Wochenende, damit die Kunden nicht so lange auf die Samen warten müssen. Die Abpackmaschine, die die Samen in die kleinen Couverts verteilt, ist schon fast rund um die Uhr in Betrieb. Ist die Ware einmal bei den Kunden, schicken diese Fotos von ihren Gärten zurück, um ihre Arbeit zu zeigen.

Nach vielen Beratungsgesprächen mit Kundinnen und Kunden aus allen Landesteilen ist Tulipan Zollinger klar, warum es eine derart riesige Nachfrage nach Samen gibt. «Der Lockdown ist für viele Antrieb, Gemüse, Kräuter und Blumen anzupflanzen. Wer jetzt aussät, kann nach dem Lockdown ernten», sagt Zollinger. Die Motive sind unterschiedlich.

Die einen Kunden wollen sich erstmals einen eigenen Gemüsegarten einrichten, womöglich auch, um sich eine Nahrungsmittelquelle zu schaffen. Sie decken sich mit Samen für Schnittsalate, Radieschen, Rucola oder Kräuter ein, die einfach anzupflanzen sind und garantiert eine Ernte abwerfen. Andere Kunden haben einige Erfahrung mit Gartenarbeit und wegen des Lockdown plötzlich mehr Zeit, also intensivieren sie ihre Aktivitäten und probieren Neues aus. Doch auf die Gartencenter können sie nicht zurückgreifen, weil diese wegen der Corona-Massnahmen geschlossen sind.

Und dann gibt es eine dritte Gruppe: die Lehrerinnen und Lehrer. Sie bestellen Samen, um sie an ihre Schüler zu verteilen. Die Idee der Pädagogen ist, dass die Schüler im Homeschooling Blumen oder eine Gemüsesorte pflanzen. Das Ganze ist als Experiment gedacht. Die Schüler führen eine Art Tagebuch und notieren, wann und mit welcher Menge sie die Erde bewässern, wann das erste Grün erscheint und was passiert, wenn sich das erste Blatt entfaltet oder sich die erste Blüte öffnet. Dahinter steckt auch eine symbolische Botschaft der Lehrer an ihre Schüler, nämlich jene, dass die Zeit nicht stillsteht, sondern Neues entsteht. Ein Konzept, das auch Tulipan Zollinger fasziniert, der Pflanzenzucht und Genetik studierte, bevor er von seinen Eltern den Betrieb in der Westschweiz übernahm.

Kraftriegel für die Spitäler

Nicht allen Gartenbaubetrieben geht es derzeit so gut wie den Samenzüchtern Zollinger im Chablais. Der Corona-Verkaufsstopp zwingt die Gartenbranche, Millionen von Töpfen mit Osterglocken, Tulpen und Primeln zu kompostieren. Das Wegwerfen der Pflanzen ist eine Vermögensvernichtung im grossen Stil. Den Profigärtnern bricht es das Herz, Pflanzen wegzuwerfen, die sie den ganzen Winter über aufgezogen haben. Das wissen auch die Zollingers, die nebst Privatkunden viele professionelle Gartenbaubetriebe beliefern. «Wir haben sofort reagiert und die Zahlungsfristen von 30 auf 90 Tage verlängert, um Betroffenen wenigstens ein bisschen entgegenzukommen», sagt Tulipan Zollinger.

Mittlerweile hat er eine weitere Hilfsaktion lanciert. Sie soll direkt dem Spitalpersonal zugutekommen. Vor kurzem brachte der 35-Jährige einen zu 100 Prozent biologischen und veganen Getreide-Rüebli-Riegel auf den Markt. Für jede verkaufte Packung wird er eine Packung Energieriegel einem Spital spenden, «zur Stärkung des Pflegepersonals, das in diesen Tagen Enormes leisten muss», wie Zollinger ausführt. Die Kunden sind seit letzter Woche aufgerufen, Adressen zu liefern, und sie tun das auch. So fliesst ein Teil der Energie vom Land zu jenen Leuten, die sie dringend nötig haben.

Zum Bericht im Bund:

https://www.derbund.ch/der-lockdown-bringt-sein-geschaeft-zum-spriessen-949694282277