Die biodynamische Ausbildung in Rheinau dauert vier Jahre. In der 1. Klasse werden entscheidende Impulse für die Landwirtschaft aus biodynamischer Sicht gegeben. Es ist eine luxuriöse und intensive Wissens-Dusche von Seiten hochkarätiger Dozent*innen aus vielseitigen Lebensbereichen, immer mit dem Schnittpunkt zur Landwirtschaft. Die 44-jährige Bäuerin Selina Walter sitzt in der Klasse P, welche diesen Juli das 1. Jahr abgeschlossen hat. Nun schaut sie zurück.
© Selina Walter, 2022
Ich konnte mich im Unterricht meist fast nicht halten. Da kamen so viele Denkanstösse, die bei mir ein Synapsen-Feuerwerk im Hirn auslösten und mein Herz höher schlagen liessen. Ich hatte immer tausend Fragen und konnte es kaum fassen, dass es nicht allen so ging. Aber das ist gut so. Wenn alle so viel fragen würden wie ich, ginge der Kurs doppelt so lang.
Mit 44 wieder Schülerin
Das Jahr ist in zwölf Module unterteilt, die jeweils 5 Tage am Stück gehen. So lange vom Hof weg zu sein, war für mich immer eine organisatorische Herausforderung, aber auch einfach wunderbar – Schülerinsein: denken, fragen, austauschen, fühlen, wirken lassen und dabei nicht allein sein, sondern sich in einem Kollektiv entwickeln. Das Vernetzen mit Gleichgesinnten ist einer der Gründe, warum ich diese Ausbildung mache. Nur schon deswegen lohnt sich alles.
Venusblume und Zuckerrübenerntemaschine
Was uns vermittelt wurde, war einerseits fassbar und konkret: Was tun, wenn ein Tier Durchfall hat? Wie bestimme ich eine Bodenart? Wie wird Saatgut gezüchtet? Fakten wie, dass es ein öffentliches Agrar-Archiv gibt und eine Geschmacksrichtung namens Umami. Bleibende Eindrücke wie die Venusblume oder die ungeheuer riesige Zuckerrübenerntemaschine. Andererseits war da der geisteswissenschaftliche Stoff, den man nicht sofort greifen kann, sondern erst mal auf sich wirken lässt, bevor er sich allmählich setzt: Was passiert, wenn ein Mensch stirbt und wenn ein Teil von ihm zurückbleibt? Warum schläft der Boden im Sommer und ist im Winter wach? Wie kann ich ein Tier töten, ohne dass es ein Schreckenserlebnis wird für uns beide? Warum herrscht in der Dämmerung eine besondere Energie in der Luft? Wohin entwickelt sich die Menschheit und was hat das mit Jupiter zu tun?
Mit Bewusstsein als Landwirtin die Welt mitgestalten
Und immer zielte es auf die Frage: Wie kann ich als Wesen mit einem Bewusstsein das Leben auf dieser Welt fördern? – insbesondere in der Rolle der Landwirtin? Und wie lässt sich das organisieren, dass nicht nur der Boden fruchtbar, die Pflanzen divers und die Tiere wohl sind, sondern auch der Mensch als Teil des Ganzen genau das alles leben darf? Wie bilden wir Lebensgemeinschaften, in denen sich alles Lebendige so entfalten kann, das es die beste Version seiner selbst ist und alle einander dabei helfen, sich zu diesem Ziel hin weiterzuentwickeln? ––Landwirt*innensein im Kontext der Menschheitsentwicklung. Landwirtschaft im Kontext der Förderung alles Lebendigen.
Verstehen, warum diese Welt ist, wie sie ist – und meine Rolle darin finden
Das Jahr als Gesamtes war ein harmonisch gebauter Zyklus, der die Fragen des Lebens aus verschiedenen Perspektiven beleuchtete. Wie harmonisch etwas ist, spürt man auch dann, wenn die Harmonie gestört wird. Dies erlebten wir aufgrund gewisser Massnahmen, die uns zwangen, beim Modul Mensch abzubrechen und nach Hause zu gehen. Beim darauffolgenden Modul Harmonie war die Klassenharmonie dadurch gestört, dass jene, die kein Zertifikat hatten, nicht zur Schule kommen konnten. Interessanterweise löste sich diese Disharmonie inmitten des Harmonie-Moduls wieder auf, da eben dann die Zertifikatspflicht abgeschafft wurde. Puff! Und dann gings steil aufwärts – Höhepunkte angetippt: Modul 7 «Ausgleich»: Erlebnis Gegensatz grosser Lohnunternehmer versus mit Pferden auf dem Acker. Modul 8 «Tod»: unmittelbar neben dem Blutbad im Schlachthof. Modul 9 «Visionen»: beeindruckende Begegnungen mit Menschen, die ihre Visionen leben wie SoLawi oder Mosaiklandwirtschaft. Modul 10 «Punkt und Umkreis»: Pfarrerin Nadine Proença, die auf alles eine Antwort weiss – für mich das Highlight des Jahres mit Erleuchtungen, die nachwirken. Ich habe das Gefühl, verstanden zu haben, warum diese Welt ist, wie sie ist – und meine Rolle darin gefunden.
Dafür von Herzen Dankeschön. Diese Ausbildung zu machen, war eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens. Ich fühle mich reich an neuem Wissen und bleibenden Erfahrungen und freue mich auf alles, was noch kommt.
Selina Walter
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