nzz.ch – 29. März 2022 | Ulrich von Schwerin, Kairo

Ägyptens Traum von der Begrünung der Wüste lebt fort

Um die wachsende Bevölkerung zu ernähren und die Getreideimporte zu reduzieren, will Ägypten neue Flächen in der Wüste erschliessen. Viele staatliche Grossprojekte sind jedoch gescheitert. Die Wasserknappheit ist dabei nur ein Problem.

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«Alles hängt in Ägypten an der Bewässerung», sagt Maximilian Abouleish und blickt auf ein Feld mit Kamille am Rande des Nildeltas, auf dem seine Mitarbeiter mit neuen Anbaumethoden experimentieren. Nur an der Küste des Mittelmeers falle regelmässig Regen, sonst müsse das Wasser zu den Pflanzen gebracht werden, sagt der deutsche Agrarexperte. Im Falle des Felds mit Kamille stammt es aus Brunnen und wird mit Sprinklern auf dem Feld verteilt. Auf den angrenzenden Parzellen gelangt das Wasser durch perforierte Schläuche zu den Pflanzen, wo es in kleinen Tropfen ins Erdreich sickert.

Obwohl in Ägypten seit langem akute Wasserknappheit herrsche, fehle vielen Menschen noch immer das Bewusstsein für das Problem, sagt Abouleish. Gerade am Nil, wo das Wasser in grosser Menge frei verfügbar ist, verwenden die Bauern nach wie vor traditionelle, aber wenig effiziente Bewässerungsmethoden, bei denen die Felder periodisch geflutet werden. Weder sähen sie für sparsamere Methoden die Notwendigkeit, noch hätten sie das Geld für die nötigen Investitionen in Sprinkler, Rohre und Schläuche, sagt Abouleish.

Der 38-jährige Deutsche ist bei dem ägyptischen Agrarunternehmen Sekem für Nachhaltigkeit zuständig. Gemäss dem Ansatz von Sekem umfasst dies nicht nur ökologische und wirtschaftliche, sondern auch soziale und kulturelle Aspekte. Nach Kairo gekommen war Abouleish 2009 als Praktikant, hatte sich dort erst in Sekem und dann in eine Enkelin des Gründers Ibrahim Abouleish verliebt und ist bis heute auf der Farm am Rande des Nildeltas geblieben.

Mit Rudolf Steiner in die Wüste

Wo vor 45 Jahren staubige Wüste war, spenden heute Eukalyptusbäume und Dattelpalmen Schatten. Verstreut zwischen den sattgrünen Feldern mit Getreide, Gemüse und Kräutern, stehen weiss verputzte Gebäude mit sanft geschwungenen Formen. Neben einer Fabrik für biologische Kinderkleidung und Anlagen zur Verarbeitung von Heilkräutern beherbergen sie auch eine Schule, ein Gästehaus, eine Krankenstation und diverse Werkstätten, in denen die Schüler der integrierten Berufsschule ihre Ausbildung machen.

Auf den Feldern wird nach den strengen Demeter-Regeln gewirtschaftet. Der so idealistische wie charismatische Gründer Ibrahim Abouleish war während des Studiums in Österreich mit der Philosophie Rudolf Steiners in Berührung gekommen. Als er 1977 nach einer Karriere in der Pharmabranche in sein Heimatland zurückkehrte, um seinen Traum von der Begrünung der Wüste zu realisieren, brachte er die anthroposophischen Ideen nach Ägypten mit.

Angefangen hat Sekem mit einer Handvoll Mitarbeiter auf einer Fläche Ödland an der Grenze zwischen Nildelta und Wüste. Heute ist daraus ein florierendes Unternehmen mit 2000 Mitarbeitern geworden. Zwar ist Sekem nicht unberührt geblieben von den politischen Turbulenzen und der Wirtschaftskrise nach dem Arabischen Frühling. In den vergangenen Jahren hat es aber mit deutschen Bankkrediten drei neue Betriebe in anderen Landesteilen gründen können.

Wie auf jeder echten biodynamischen Farm darf auch bei Sekem das Vieh nicht fehlen. Denn ohne Vieh gibt es keinen natürlichen Dünger. Gut 400 Schafe und 300 Kühe werden auf der Hauptfarm gehalten. Die meisten Rinder sind Holstein-Kühe und Allgäuer Braunvieh, die ertragreicher als die einheimischen Rassen sind. Das Wasser für die Bewirtschaftung der rund 150 Hektaren Fläche stammt aus fünf Brunnen, die bis zu 200 Meter tief ins Grundwasser reichen.

Das Allgäuer Braunvieh auf der Sekem-Farm dient in erster Linie als natürlicher Düngemittellieferant, erst dann zur Produktion von Milch und Fleisch. Samuel Leon

Uralt und nicht erneuerbar

Unter Ägypten befindet sich der riesige nubische Grundwasserleiter. Der Aquifer, der sich bis in den Sudan, nach Libyen und Tschad erstreckt, ist mit einem geschätzten Volumen von 370 000 Kubikkilometern eines der grössten unterirdischen Reservoirs der Welt. Allein in Ägypten findet sich so viel Wasser, wie in 600 Jahren den Nil hinunterfliesst. Allerdings befindet sich das Wasser in bis zu 2500 Metern Tiefe und gilt als nicht erneuerbar. Bis heute ist unklar, woher das zum Teil Hunderttausende Jahre alte Wasser unter der Wüste stammt.

Trotz dem riesigen Wasserreservoir bleibt Ägypten auf den Nil angewiesen. Auch der Bau von Brunnen und die Entsalzung von Meerwasser hat nichts daran geändert, dass 90 Prozent des verwendeten Wassers aus dem Fluss stammen. Und dieses Wasser muss heute unter mehr als 100 Millionen Einwohnern aufgeteilt werden, Tendenz steigend. Schon seit 1991 liegt das Land unter dem von der Uno definierten Mindestbedarf von jährlich 1000 Kubikmetern Wasser pro Kopf.

Im Januar verkündete die Regierung in Kairo dann, dass Ägypten mit jährlich weniger als 500 Kubikmetern offiziell den Zustand der Wasserarmut erreicht habe. Nicht nur wegen des Klimawandels dürfte sich die Wassernot weiter verschärfen, sondern auch wegen des Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD), den Äthiopien seit 2011 am Oberlauf des Blauen Nils baut. Addis Abeba hat damit künftig die Möglichkeit, Ägypten die Wasserzufuhr abzudrehen.

Ägypten fürchtet um sein Wasser

uvs. · Der Grand Ethiopian Renaissance Dam (Gerd) sorgt seit dem Beginn der Bauarbeiten vor elf Jahren für erbitterten Streit zwischen Äthiopien, dem Sudan und Ägypten. Während sich Addis Abeba von dem Grossprojekt nichts weniger als die Renaissance des Landes erhofft, fürchten die Länder am Unterlauf des Nils um ihre Wasserversorgung. Vor allem Kairo ist alarmiert und hat sogar mit Krieg gedroht, sollte Äthiopien nicht festen Regeln zur Nutzung des Nils zustimmen.

Ägypten beharrt darauf, dass frühere Abkommen ihm eine jährliche Wassermenge von 55 Milliarden Kubikmetern garantieren. Äthiopien fühlt sich aber an die Vereinbarung aus der Kolonialzeit nicht gebunden. Verhandlungen unter Vermittlung der Afrikanischen Union haben keine Annäherung gebracht. Der Uno-Sicherheitsrat hat es vermieden, eine Position zu beziehen. So musste Kairo ohnmächtig zuschauen, als Äthiopien 2020 begann, den Stausee zu befüllen.

Zwar kam es in den beiden Jahren danach dank ausgiebigen Niederschlägen im äthiopischen Hochland nicht zu einem Rückgang des Nilniveaus in Ägypten. Im Fall einer Dürre drohen aber ernste Probleme. Auch wenn der Stausee in Äthiopien in einigen Jahren komplett befüllt sein wird, dürfte der Streit nicht vom Tisch sein. Zwar ist der Gerd in erster Linie zur Stromgewinnung gedacht, doch fürchtet Kairo, dass die Äthiopier den Stausee künftig auch zur Bewässerung nutzen.

Ägypten sieht sich in die Zeiten zurückgeworfen, in denen es um seine Wasserversorgung bangen musste. Diese war ab der Fertigstellung des Assuan-Staudamms 1971 gesichert. Der riesige Nasser-Stausee in Oberägypten speicherte genug Wasser, um das Land auch im Fall einer mehrjährigen Dürre zu versorgen. Der Nil floss gleichmässig das ganze Jahr. Bei aller Aufregung um den Gerd ist aber auch klar, dass Ägyptens Wasserproblem weit über den Damm hinausgeht.

Der Nil als Wirtschaftsfaktor

Rund 85 Prozent des Nilwassers in Ägypten stammen aus dem Blauen Nil, der seinen Ursprung im äthiopischen Hochland hat. Der Weisse Nil, dessen Quellen sich in den Bergen von Burundi, Rwanda und Tansania befinden, ist zwar viel länger, führt aber deutlich weniger Wasser. Überhaupt ist die Wassermenge des Nils relativ gering: Mit 6700 Kilometern ist er noch vor dem Amazonas der längste Fluss der Welt. Doch während der Amazonas jährlich gut 5500 Kubikkilometer Wasser transportiert, sind es beim Nil gerade einmal 84.

Für Ägypten ist der Nil eine Lebensader und ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Über Jahrtausende hing das Wohl des Landes vom Monsun in Äthiopien ab. Fiel zu wenig Regen, drohte eine Dürre. Fiel zu viel, eine Flut. Ab Anfang Juni schwoll der Nil an, und Ende des Monats erreichte die Flutwelle Kairo, wo sie grosse Teile des Niltals und des Deltas überflutete. Die Regierung und die gesamte Bevölkerung beobachteten sorgenvoll den Anstieg des Wassers.

Heute erinnert das Nilometer an der Südspitze der Insel Roda an diese Zeit. Unter einer mit Koranversen verzierten Kuppel steht eine Säule in einem tiefen Schacht. Gegen ein Trinkgeld kann der Besucher bis dorthin hinabsteigen, wo einst ein Tunnel den Schacht mit dem Nil verband. Erreichte das Wasser die Höhe von 16 Ellen, war die Versorgung des Landes gesichert. Dann trat der Kalif vor das Volk, um die gute Nachricht zu verkünden. Blieb der Nil darunter, drohte eine Hungersnot.

Vermessen, eingedämmt und reguliert

Im 19. Jahrhundert begann die Regierung dann, den Lauf des Nils zu regulieren. Einige der ersten Stauanlagen lassen sich heute in Qanatir al-Khairiya, rund 30 Kilometer flussabwärts von Kairo, besichtigen, wo sich der Nil in den Rosetta- und den Damietta-Zweig aufspaltet. Hier wurden in den 186oer Jahren von schottischen Ingenieuren mehrere Dämme und Schleusen errichtet. Noch heute sind die Zugänge durch von Türmen flankierte Tore gesichert, die mit ihren gotischen Bögen und Zinnen an englische Schlösser erinnern.

Auf der Halbinsel zwischen den Nilarmen findet sich ein Museum voller verstaubter Modelle und verblichener Pläne, das stolz die frühen Ingenieurleistungen präsentiert. In den Gartenanlagen daneben liegen Forschungsinstitute für Kanalbau und andere Bewässerungsfragen. Das Thema ist so wichtig, dass heute ein eigenes Ministerium mit einem Heer von Experten dafür zuständig ist. An Erfahrung und Wissen fehlt es in Ägypten daher gewiss nicht.

Eher liegt das Problem bei der Anwendung. Viele Bewässerungsanlagen sind veraltet, grosse Mengen Wasser versickern ungenutzt. Die Regierung versucht seit Jahren, die Kanäle zu erneuern und die Bauern dazu zu bringen, auf effizientere Bewässerungsmethoden und weniger wasserintensive Feldfrüchte umzustellen. Sinnvoll wäre es, mehr Gemüse anzubauen und Reis, Weizen und Mais einzuführen. Allerdings importiert Ägypten heute schon 40 Prozent der Lebensmittel.

Der Krieg in der Ukraine hat die Situation jüngst noch einmal verschärft. 80 Prozent der Weizenimporte in Ägypten stammten vergangenes Jahr aus der Ukraine und Russland. Der Krieg und die Sanktionen gegen Moskau erschweren jedoch die Produktion und den Export des Getreides und treiben weltweit die Preise in die Höhe. Kairo fürchtet daher um die Versorgung seiner Bevölkerung mit Brot und will nun selber wieder mehr Weizen anbauen sowie die Anbauflächen ausweiten.

Der Wasserspiegel sinkt

Angesichts der begrenzten Wassermenge, meint Maximilian Abouleish, könne die Umstellung auf biologische Anbaumethoden eine Lösung sein. Denn biologische Bauernbetriebe benötigten gut 20 Prozent weniger Wasser im Vergleich zu konventionellen Farmen, da sie schonender mit den Böden umgingen. In Ägypten, wo 86 Prozent des Wassers für die Landwirtschaft verwendet werden, könnten damit Ressourcen für die Erschliessung neuer Felder in der Wüste frei werden. Wie das geht, macht Sekem seit Jahrzehnten mit Erfolg vor.

Nicht nur hat Sekem am Rande des Nildeltas 150 Hektaren Ödland in fruchtbare Äcker verwandelt. Ab 2008 hat es auch grosse Flächen in der Wüste auf dem Sinai, in Minya am Rande des Niltals sowie in der Baharya-Oase in der Sahara dazugekauft. Wie auf der Hauptfarm stammt das Wasser dort aus Brunnen. Zwar sinke auf der Hauptfarm der Grundwasserpegel jedes Jahr um 80 Zentimeter, sagt Abouleish. Doch werde es noch mindestens 100 Jahre reichen.

Die Erschliessung neuer Agrarflächen in der Wüste braucht viel Engagement und einen langen Atem. Viele Bauern hatten dies in den vergangenen Jahrzehnten nicht. Samuel Leon

Moderne Sprinkleranlagen sparen viel Wasser gegenüber traditionellen Bewässerungstechniken, doch sind die Investitionen in Rohre und Pumpen teuer. Samuel Leon

Nun sind 100 Jahre nicht viel. Auch Abouleish gibt zu, dass sich die Frage stellt, wie nachhaltig die Ausbeutung nicht erneuerbarer Wasserreservoirs ist. Er ist aber hoffnungsvoll, dass der technische Fortschritt bei der Entsalzung von Meerwasser künftig neue Quellen erschliessen wird. Wenn der Preis von Solarstrom weiter sinke, werde auch die Entsalzung von Meerwasser günstiger werden. Sonne und Flächen zur Produktion von Solarstrom gebe es auf jeden Fall genug.

Verdorrte Obsthaine und gescheiterte Projekte

Im Moment ist das noch Zukunftsmusik, und Sekem hat dringendere Probleme. Noch sind die Agrarbetriebe in der Wüste erst im Aufbau. Damit sie ein Erfolg werden, braucht es einen langen Atem und viel Engagement. Viele Landwirte haben dies nicht. Heute ist Ägypten übersät von ausgetrockneten Brunnen, verdorrten Obsthainen und aufgegebenen Feldern. Viele Grossprojekte zur Begrünung der Wüste, die von der Regierung gross verkündet wurden, sind nie über die Planungsphase hinausgelangt.

In seinem Buch «Egypt’s Desert Dreams» zieht der amerikanische Ökonom David Sims eine vernichtende Bilanz der staatlichen Projekte: Im Nordsinai seien die geplanten Kanäle und Pumpstationen nie fertig gebaut worden. In Toshka im Süden seien die Investoren abgesprungen, und nur ein Bruchteil der anvisierten Fläche sei erschlossen worden. Auch die grandiosen Pläne zur Schaffung eines «neuen Niltals» in der westlichen Wüste seien nicht realisiert worden.

Laut Sims schaffen die stark mechanisierten Agrarprojekte oft nur wenig dauerhafte Arbeitsplätze, und die Erträge der Felder sind geringer als im Delta. Viele Projekte würden scheitern, weil der Boden für die Landwirtschaft ungeeignet oder das Wasser zu salzhaltig sei. Oft seien die Kosten für die Bewässerung auch zu hoch. Trotz den dürftigen Ergebnissen mache der Staat unverdrossen weiter, kritisiert Sims. Alte Projekte würden nicht evaluiert und immer neue, unrealistische Ziele ausgegeben.

Wachsendes Interesse an Bio

Erfolgreicher als die staatlichen Grossprojekte in der Sahara ist laut Sims die informelle Landnahme durch Kleinbauern am Rande des Niltals und des Deltas. Die Nähe zu bestehenden Dörfern erleichtere dort die Erschliessung neuer Flächen und die Vermarktung der Produkte.

In der Wüste ist es oft schwierig, Arbeitskräfte zu gewinnen. Viele Arbeiter sind Saisonkräfte, die ihre Familien zuhause im Niltal oder Delta lassen. Samuel Leon

Auch die Sekem-Hauptfarm am Rande des Deltas bezieht ihre Arbeitskräfte aus den umliegenden Dörfern. Das Geheimnis ihres Erfolgs liegt aber wohl vor allem in ihrem ganzheitlichen Ansatz von Nachhaltigkeit und dem Engagement der Familie Abouleish. Einen Grossteil des Gewinns steckt sie in die sozialen und kulturellen Einrichtungen von Sekem. Seit einigen Jahren gehört dazu auch eine Universität für nachhaltige Entwicklung mit 3000 Studierenden.

In der Mittagspause herrscht auf dem Campus in der Nähe des Kairoer Flughafens reger Betrieb. Zu den Studienfächern zählt selbstverständlich auch biologische Landwirtschaft. Das Interesse ist nicht nur bei den Studierenden gross, auch immer mehr Bauern stellen auf Bio und Demeter um. Sie sind dabei weniger von den Ideen Rudolf Steiners getrieben als von steigenden Düngemittelpreisen und wachsender Nachfrage nach Bioprodukten, wie Maximilian Abouleish erklärt. Am Ende zählt aber das Ergebnis.